Gespräch mit Schwester Dr. M. Dorothea Rumpf

Gespräch mit Generaloberin Schwester Dr. M. Dorothea Rumpf

Wie haben Sie gespürt, dass Sie zum Leben in der Ordensgemeinschaft berufen sind?

Das war ein längerer Weg der Auseinandersetzung mit meinem Glauben, der Gemeinschaft der Hildesheimer Vinzentinerinnen und der Frage nach dem Sinn meines Lebens. Ausschlaggebend waren dabei Begegnungen und Gespräche mit Menschen, die mir wichtig sind und denen ich wichtig bin. Immer wieder stand die Frage im Raum, was ist sinnvoll und angemessen für ein erfülltes Leben. In all dem wuchs eine Gewissheit, dass Gott mich in diese Lebensform ruft. Es ist so wenig bzw. so viel zu erklären wie die Liebe.

Welche besondere Anziehungskraft hatte die Kongregation der Barmherzigen Schwestern in Hildesheim für Sie?

Ich war davon angesprochen, dass Frauen gemeinsam ein Leben aus dem Glauben gestalten und diesem Leben in einem gemeinsamen Werk eine konkrete Form geben in einer Ausrichtung auf Tätigkeiten, die Menschen – in welcher Situation auch immer begleiten, unterstützen und dem (gelingenden) Leben zu mehr Raum verhelfen wollen. Das geschieht in Unabhängigkeit und gemeinsamer Verantwortung. Das hat mich begeistert in dieser Kombination von Freiheit und Bindung, von Individualität und Gemeinschaft.

Was fasziniert Sie am vinzentinischen Charisma?

Mich fasziniert sehr, dass Vinzenz von Paul und Louise von Marillac in ihrer Zeit ein Gespür dafür entwickelt haben, wo Menschen der Unterstützung bedürfen, damit sie nicht nur überleben, sondern in einem umfassenderen Sinn leben können. Dafür Bedingungen – systemisch und individuell – zu schaffen, war ihnen täglicher Ansporn. Dies stellten sie unter den Anspruch der Barmherzigkeit Gottes.

Ich bin überzeugt, dass auch die heutige Gesellschaft solches braucht. Auch im 21. Jahrhundert bedarf die Welt der Barmherzigkeit. Dazu einen kleinen Beitrag zu leisten an dem Ort, wo ich lebe, ist mir Motivation, Herausforderung und Erfüllung gleichermaßen.

Was hat Sie dazu bewogen, Ihren Schwesternnamen zu wählen?

An einem sehr wesentlichen Einschnitt des eigenen Lebens dies in einem neuen Namen zum Ausdruck zu bringen, ist eine gute Tradition. Die Wahl meines Namens hat mit der tiefen Erfahrung zu tun, dass ich mich in meinem Dasein und Sosein als sehr beschenkt erfahre. Meine Fähigkeiten und Begabungen habe ich ja nicht aus mir selbst, sondern diese sind mir geschenkt, von Gott geschenkt. Daraus erwächst für mich die innere Verpflichtung, diese Gaben und Kompetenzen so zu entfalten und einzusetzen, dass sie auch anderen zu Gute kommen. Ich habe dann entdeckt, dass Dorothea aus dem Griechischen abgeleitet werden kann und in der Übersetzung Geschenk Gottes heißt. Damit war meine Erfahrung abgedeckt und zugleich quasi ein Programm, ein Auftrag formuliert.

Der Generalrat der Vinzentinerinnen Hildesheim, von links Schwester M. Hanna Schmaus, Schwester M. Teresa Slaby, Schwester Dr. M. Dorothea Rumpf, Schwester M. Canisia Corleis und Schwester Clara-Maria Siesquén Piscoya.
Der Generalrat der Vinzentinerinnen Hildesheim, von links Schwester M. Hanna Schmaus, Schwester M. Teresa Slaby, Schwester Dr. M. Dorothea Rumpf, Schwester M. Canisia Corleis und Schwester Clara-Maria Siesquén Piscoya.

Was sind die spirituellen Fixpunkte in Ihrem Tagesablauf?

Die liturgischen Feiern und gemeinsamen Gebetszeiten des Stundengebetes (wie Laudes, Vesper etc.), die Impulse aus der heiligen Schrift, das stille Verweilen vor Gott und der Glaube an den „Gott mit uns“, der sich in der Gewissheit bündelt, dass er im ganz alltäglichen Leben erfahrbar sein will. In diesem Bewusstsein ist der eigentliche Fixpunkt, also der, um den sich alles drehen sollte, mein Gegenüber, in dem mir Gott gegenwärtig sein kann – wenn ich denn achtsam genug bin und einen solchen Perspektivwechsel zulasse. Ich bin mir bewusst, dass dies nicht immer gelingt. Wenn dieser Blickwinkel jedoch gelingt, dann ist es sehr bereichernd und auch in schwierigen Situationen wahrhaft konstruktiv.

Welchen Beruf haben Sie erlernt?

Ich bin Diplom-Pädagogin und Doktorin phil.

Welcher Tätigkeit gehen Sie heute nach?

Ich bin Schulleiterin der Vinzenz von Paul Schule, eine Berufsfachschule Sozialpädagogische/r Assistent/in und Fachschule für Sozialpädagogik.

Wenn Sie auf Ihr Leben blicken: In welchen Momenten hatten Sie das Gefühl, besonders im Sinne der Werte des Hl. Vinzenz und der Hl. Luise zu wirken?

Barmherzigkeit hat u.a. einen sprachlichen Bezug zum hebräischen Wort für „Mutterschoß“. Im übertragenen Sinn heißt Barmherzigkeit, jemandem zu einen selbständigen Leben in Eigenverantwortung zu befähigen. Dafür bedarf es keiner besonderen Erlebnisse. Es geschieht überall da, wo Menschen sich in einer Haltung der Barmherzigkeit begegnen, also mitten im Alltag.

Welche Werte würden Sie gerne den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Einrichtungen der Vinzentinerinnen Hildesheim mitgeben?

Der zentrale Wert ist natürlich die Barmherzigkeit, die es in zweifacher Weise zu leben gilt: Einerseits ist jede und jeder eingeladen, zu glauben (bzw. es zu lernen), dass zunächst wir selbst aus dieser Barmherzigkeit leben dürfen, uns als Geliebte bejahen (sollten). Andererseits besteht dann die Herausforderung, diese Barmherzigkeit in unserem Tun anderen zuteilwerden zu lassen.

Konkret heißt dies: „Großzügigkeit schafft Frieden“, wie Andrea Riccardi, Gründer der Gemeinschaft Sant` Egidio und ehemaliger italienischer Außenminister schrieb. Im Blick auf den Einzelnen sollten wir uns darum bemühen, jede und jeden nach seinem Größten zu beurteilen und nicht auf die Schwächen festzulegen. Konflikte sollten dabei nicht gescheut, sondern in Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit bearbeitet werden, damit schließlich eine für alle tragfähige Lösung gefunden werden kann. Das allerdings setzt voraus, dass alle sich in unterschiedlicher Weise und Gleichwertigkeit der gemeinsamen Aufgabe verpflichtet wissen.

Das klingt jetzt nach Allgemeinplätzen. Und sie sind es wohl auch. Jede Aufgabe und Situation ist wieder anders. Vielleicht sollten wir einfach mit „den Augen von Vinzenz und Louise“ die Menschen und Begebenheiten anschauen und analysieren, welche Anfrage – über die offensichtliche Problematik hinaus das Leben an uns stellt. Für „Antworten“ werden wir dann hoffentlich genug Phantasie und Kreativität haben. Mein Gegenüber ist genauso Mensch wie ich. Das heißt: wechselseitige Wertschätzung der jeweiligen Gaben, Akzeptanz der Grenzen und Behütung der Sehnsucht nach einem gelingenden Leben. Selbst- und Nächstenliebe sollten dabei in einer ausgewogenen Balance realisiert werden.

Das klingt leicht. Ist es jedoch nicht. Dennoch bleibt der Anspruch. Das ist Herausforderung und im ganz konkreten alltäglichen Tun wohl auch zuweilen eine Überforderung. Versuchen sollten wir es dennoch. Hilde Domin hat dafür das starke Wort geprägt „Dennoch-Vertrauen“. Das sind jetzt viele Worte. Und wahrscheinlich ist immer noch nicht alles gesagt. Ich freue mich auf einen inspirierenden Dialog überall da, wo wir die Chance dazu haben werden.